Kunstschaffende in der Sammlung Online

Zurück

Detailansicht Werk

 Zurück

Resultate:  1

L'étude de la géographie
    • Öl auf Leinwand
    • Bildmass: 65 x 74 cm
    • Inv.-Nr. 15
    • Aargauer Kunsthaus Aarau
    • © gemeinfrei
    • "Ein wahrhaft sympathisches und zärtliches Gefühl, eine exquisite Beobachtung der Kindheit, des Mädchens und der jungen Frau" regiere die Werke von Mademoiselle Breslau. So hingerissen urteilt der sonst für eine weit spitzere Feder bekannte Kunsthistoriker und Kritiker Arsène Alexandre über die hohe Zahl von dreizehn Bildern, mit denen Louise Breslau (1856–1927) am "Salon" der Société Nationale des Beaux-Arts von 1901 vertreten ist. Zu sehen seien "einige der gelungensten Porträts der hervorragenden Künstlerin". Exemplarisch nennt er "L'étude de la géographie" (1900) und "L'étude du dessin" (1901) und attestiert den Werken den "Charme der Intimität dank des ernsthaft studierten und mit bemerkenswertem malerischen Können wiedergegebenen Milieus".

      Mit "L’étude de la géographie" besitzt das Kunsthaus folglich ein sofort bei der Erstpräsentation beachtetes Werk einer der gefeiertsten Künstlerinnen der Zeit. In München geboren, in Zürich aufgewachsen und 1876 nach Paris übersiedelt, ermalt sich Breslau im Umkreis der Impressionisten zielstrebig den Ruf einer gefragten Porträtistin. 1889 und 1900 festigt sie diesen, als sie als Repräsentantin der Schweiz an beiden Pariser Weltausstellungen die Goldmedaille gewinnt. 1901 erhält sie als erste Nichtfranzösin den Ritterorden der Ehrenlegion verliehen. Der wohlwollende Ton des Kritikers braucht somit eigentlich nicht zu erstaunen, zumal Breslaus Spätimpressionismus um 1900 im "Figaro-Salon", einem Sonderblatt des konservativen "Figaro", ohnehin kaum mehr Widerrede riskiert. Symptomatisch ist hingegen der anhaltende Drang, in Werken von Frauen zwingend Repräsentationen des Zarten, Häuslichen und Beschaulichen zu sehen. Breslaus Oeuvre, das mit seinen stillen Porträts eine Themenlücke im Schaffen ihrer Malerkollegen schliesst, scheint dieser Erwartung freimütig zu folgen. Genauer besehen belässt manches Werk, so auch "L’étude de la géographie", aber durchaus Raum für Interpretation.

      Geleitet vom Titel und bestärkt durch Globus und Zirkel, wird man in der Protagonistin zunächst eine wissbegierige Schülerin sehen. Helles Licht fällt auf das Mädchen und lenkt, von ausserhalb des Bildes kommend, die Aufmerksamkeit direkt auf ihr von langem, kupferrotem Haar gerahmtes Gesicht. Nur lose sind die wilden Locken im Nacken gezähmt. Ein weisser Rüschenkragen hebt das Antlitz zusätzlich vom umgebenden Halbdunkel ab. Die vollendete Lichtregie – Breslaus Fokus seit den 1890er Jahren – schafft auf Anhieb eine Sphäre emotionaler Nähe. Sie bindet aber auch das vor dem Mädchen liegende Zeichenbrett auf markante Weise mit ein, was angesichts des darauf Angedeuteten Fragen aufwirft. Wird hier wirklich ein geografischer Sachverhalt studiert, mit dem Zirkel eine Skala abgegriffen? Oder ist der Blick des Mädchens gedankenverloren auf eine freie Komposition gerichtet, die gerade erst mit den im Schatten der Stiftdose abgelegten Pastellkreiden angelegt worden ist? Details zu Breslaus Absichten scheinen nicht überliefert. Auch ist heute unbekannt, wer das rothaarige, auch für andere Werke jener Jahre posierende Mädchen ist. Reizvoll erscheint jedoch die Vorstellung, dass Breslau in diesem ohne Auftrag entstandenen Bild eine Art Rückschau auf ihre eigene Kindheit gesehen haben könnte, als sie, von Asthma geplagt, am regulären Schulunterricht nicht teilnehmen konnte und mit Zeichnen die Einsamkeit ihrer Privatlektionen zu vertreiben begann. "L'étude de la géographie" und "L'étude du dessin", dem Porträt eines zeichnenden Jungen, käme so auch jenseits gestalterischer Ansätze der Status von Pendants zu und womöglich sogar die Funktion eines Rufs nach einem gleichberechtigten Ausbildungsweg.

      1901, direkt im Anschluss an den Pariser "Salon", sind beide Bilder abermals Teil der Werkauswahl, die Breslau für die in Zürich und Basel gezeigte, von ihr selber initiierte "Kollektiv-Ausstellung von Schweizer Künstlern in Paris" trifft – ihre bislang umfassendste Schau. Doch obschon die Künstlerin damit auch in ihrer Heimat am Zenit ihres Ruhms steht, resultiert daraus, wie sie bitter beklagt, nach Genf 1883 und Lausanne 1889 kein weiterer institutioneller Kauf. Etwas Ausgleich schafft erst zwei Jahre später der Erwerb von "L'étude de la géographie" durch den Aargauischen Kunstverein. Den Anstoss dazu gibt die jährliche "Turnusausstellung" des Schweizerischen Kunstvereins, die 1903 als erste von vier Stationen in Aarau gastiert.

      Astrid Näff, 2023